Alles riskiert, alles verloren. Zu zehnt rannten die Tschechen vergeblich einem Siegestor nach, das sie schließlich von elf Türken in der Nachspielzeit im Konter kassierten. Mit dem 2:1 stand dann fest, dass die Österreicher am kommenden Dienstag gegen die Osmanen mit dem türkischen Ex-Rapidler Müldür spielen. Der ehemalige grünweiße Verteidiger wird wohl dabei sein; wenn die Türken im Euro-Achtelfinale auf Revanche für das 1:6-Debakel im Frühjahr brennen – im Gegensatz zu ihrem Kapitän und Spielmacher Calhanoglu, dem einstigen Leverkusener und aktuellen Klubkollegen von Arnie bei Inter, der nach zwei gelben Karten gesperrt ist.
Trotz des pompösen Testspielsieges zu Ramadan-Fastenzeiten, die von vielen Türken-Stars auch strikt eingehalten werden, trotz des Ausfalls von Calhanoglu, und trotz unserer Euro-Spektakel-Siege sei davor gewarnt, die vermeintlich geschwächten Halbmond-Kicker zu unterschätzen. Das hat nicht nur damit zu tun, dass nach der mit Angst vorm Ausscheiden verbundenen Gruppenphase die Europameisterschaft erst so richtig beginnt, obwohl diese Euro schon bisher reich an (Eigen) Toren, an Dramen, Last-Minute-Triumphen oder -Tragödien war bei vollen Stadionschüsseln, die bunten Fan-Meeren glichen.
Was Türkei und Calhanoglu betrifft, Spielmacher und Schusskönig, so hat er zwar das 1:0 gegen die Tschechen mit einem Supertor erzielt, aber so richtig der Mannschaft seinen Stempel doch nicht aufgedrückt. Und das zieht sich wie ein roter Faden bei allen Teams durch die Vorrunde. Wo waren sie bisher bitte, die Superstars, um die sich die meisten Storys, Schlagzeilen, Features drehen. Senior-Torjäger Ronaldo? Fehlanzeige! Franzosen-Stars? Eigen- und Elfer-Tor! Lewandowski? Raus mit einem Penalty! De Bruyne und Lukaku? Halbherzig halbe Sachen! Modric? Ausgebrannt wie Kroatien! Soboszlai? Ungarn ist nicht Liverpool! England? Harry Kane, Bellingham nur Schatten ihrer selbst, Foden als Spieler des Jahres in der Premier League gar schon heimgeschickt!
Der Negativ-Beispiele von Millionenstars gibt´s genug bei dieser Euro, in der die Kleinen mit unaussprechlichen Namen den Großen mehrmals über den Kopf gewachsen sind wie die Georgier, die als Neulinge kamen, sahen und mit dem Sieg gegen Portugal gleich ins Achtelfinale stürmten. Und es sind keine Eintagsfliegen mehr, vielmehr handelt es sich um einen Trend, der sich abzeichnet – und in dem wir, die Österreicher unter Ralf Rangnick, was immer passiert, zu den Trendsettern gehören. Es geht nicht um den einen oder anderen, es geht um die dichte Breite, um Laufkraft und Lungenkapazität, um Einsatzfreude und Zweikampfstärke, um Ehrgeiz und Leidenschaft, die Defizite mehr als ausgleichen.
Ich wiederhole mich, wenn ich vom wichtigsten aller Stars spreche, der eben kein noch so geläufiger, populärer Name ist, dafür aber die verschworene Mannschaftsgemeinde von allen Kaderspielern. Und dieses osmanische Gefüge darf man bei den emotionalen Türken auch ohne Calhanoglu nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich bin mir aber sicher, dass es der positiv gepolte, aber realistische Rangnick schafft, seinen Spielern allzu euphorische, darum gefährliche Freudentaumel-Flausen auszutreiben, dafür aber gegen hitzige Temperamentsbündel kühlen Kopf zu bewahren. Denn wie eingangs gesagt – die wahre Euro fängt erst in der K.-o.-Phase an, in der jedes Team so stark ist wie ihr schwächstes (Mit)-Glied…