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Fünf Tausendstel bei Tempo 35, die Spirale absurder Superlativen die Sprintkrone aufsetzen

Es knisterte vor Spannung, als sich der Vorhang hob zum Klassiker aller Klassiker unter dem Titel: Wer ist der schnellste Mann der Welt, zumindest an Land und nicht im Wasser. Fast 80.000 im Rund des „Stade de France“ hatten die Augen auf die acht 100m-Sprinter gerichtet, die sich auf den einen oder den Lauf ihres Lebens einstimmten, darunter auch der Sensationssieger von Tokio, der tätowierte Italo-Amerikaner Lamont Marcell Jacobs. Erste Reihe Mitte natürlich die Spitzen, aber nicht Stützen einer olympischen Gesellschaft, die sich allmählich an einem mitunter absurden TV-Spektakel so delektieren wie das in der Antike der Fall beim Fall in den Untergang gewesen sein muss. Und wie so oft im Laufe der Geschichte sind´s Massen an Menschen, die wie jetzt zwischen Paris, Vororten und zum Mittelmeer vor Marseille diesem Spektakel nachrennen immer nachgerannt sind, als gäb´s kein Morgen bis Übermorgen mehr. Und bei diesem Gedanken hat mich das klassische Sprichwort gepackt von der Revolution, die ihre eigenen Kinder frisst …

Sorry für den Ausflug in die noch zollfreie Gedankenwelt, wo doch der 100m-Klassiker unmittelbar bevorstand, der natürlich auch für alle TV-Anstalten mit ihren mehr oder weniger betuchten Moderatoren und Kommentatoren die Erinnerungen ans Gestern bis Vorgestern wachrief. Von Aschen- bis federnder Kunststoffbahn, von Jesse Owens, dem schwarzen Feigenblatt der Hitler-Spiele, über Armin Hary, der den Amis die Fersen zeigte, den bunt schillernden Carl Lewis mit seinem schwarzen, gedemütigten Schaf Ben, bis zu Usain Bolt, der nicht einmal, sondern dreimal hintereinander einschlug wie der Blitz, um danach in seiner typischen Siegerpose den Pfeil mit dem Bogen zu spannen –in Peking, in London, in Rio und zwischendurch bei fast allen Weltmeisterschaften. Phänomenal. Wie Legenden, die sich um ihn rankten. Von Süßkartoffeln auf Jamaika bis… nachgewiesen wurde nichts. Anders als beim schrillen Carl, bei dem´s unter den Teppich gekehrt wurde.

Zweierlei Maß. Aber einerlei, wenn am 4. August 2024 die Hemingway-Frage ansteht, wem die Stunde schlägt. Acht Mann hoch, bunt gemischt mit Südafrika, Botswana, Italia aus Amerika, zweimal Jamaika, dreimal USA, vor- und vorneweg der Doppelweltmeister Noah Lyles, der ziemlich großspurig angekündigte hatte, wenn schon nicht mehr den Zweimeterriesen Usain leibhaftig, aber dafür die Bolt-Weltrekorde schlagen zu können. Und so inszenierte sich der US-Amerikaner auch im Final Countdown selbst, als er den Gegnern vor der Nase herumtanzte, als wollte er sie ihnen schon vorweg zeigen.

Manch ein Kommentator sprach dabei  von einem Showman mit weiß geflochtenen Zöpfchen im Haar, im Vergleich zu Bolt aber, der stets erst nach mehr oder weniger überlegenen Siegen den Entertainer ausgepackt hatte, wirkte das bei Lyles aufgesetzt, unnatürlich, lachhaft und arrogant. Eher äffte er einen Hanswurst in der mittelalterlichen Commedia del Arte nach. Zumindest mir kam´s so vor, bevor es mucksmäuschenstill wurde, man eine Stecknadel fallen gehört hätte, bis der Startschuss zum nicht vorneweg, sondern im Schnitt schnellsten 100m -Rennen der olympischen Geschichte fiel mit einem Ende, über das wohl übers Resultat hinaus noch länger diskutiert werden dürft. Nicht nur auf Jamaika beim Doch-Nicht-Bolt-Erben namens Thompson, der sich zu früh gefreut hatte.

Ja, es hatte so ausgesehen, als hätte sich der neue Jamaika-Blitz gerade noch ins Ziel gerettet, auch am Zielfoto sah es so aus, als wäre Thompson einen Hauch vorn, aber die Optik täuschte, denn die elektronische Uhr hatte Noah Lyles (Titelfoto 2. v. l.) um fünf Tausendstel vorn in 9,784 gegen 9,789 Sekunden. Fünf Tausendstel, also Millimeter. Wie ein Sandkorn. Tausendstel, die über Gold und Geld, Frust und Fragwürdigkeit entscheiden. Wär´s bei einem Highspeed-Sport mit Tempo an die 150 und mehr wie im Eiskanal oder auf zwei und vier Rädern gewesen, hätte ich mir einreden lassen, dass Winzigkeiten die Spreu vom Weizen trennen, aber fünf Tausendstel bei einem Stundenmittel von 35,3 km/h, das ist einfach so grotesk, lächerlich oder jämmerlich wie die blitzartige Metamorphose der Kommentare, die anfangs dachten, dass Lyles verloren haben könnte, im Handumdrehen aber vom Traumlauf des Weltmeisters zu Gold schrien und schrieben. Flexibel, so heißt das.

Auch dieser Klassiker von knisternder Spannung bis zum umstritten verblüffenden Ende hat uns in Paris vor Augen geführt, dass sich die Olympischen Spiele immer mehr in einer Spirale des ganz normalen Wahnsinns bewegen, in der die Sucht nach Superlativen in jeder Hinsicht und Orientierung regiert. In diesem Sinne, auch wenn dieses Spektakel wie alle Spektakel dieser Welt und der Geschichte wieder einmal die Massen an Schaulustigen anlockt, geht Olympia im wahrsten Sinn des Wortes und des präsidialen Namens eines begnadeten Wendehalses den Bach runter. Hereinspaziert, hereinspaziert ins Theater der Absurditäten, zu denen auch der neue Publikumshit Breakdance gehört. Unsereins hat diese Straßenakrobaten des Öfteren vor dem Stephansdom bestaunen dürfen ohne zu ahnen, ob ich dabei unversehens einen Olympioniken in spe beobachtet hab. Es gibt nichts mehr, was es nicht gibt. Von Tausendstel bis zu so verrückten Verrenkungen, dass die Extreme Games dabei schon vor Neid erblassen …

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