Gefährlich ist´s, den Leu zu wecken, verderblich ist des Rafas Zahn. Das trifft in Schillers Abwandlung nicht nur, aber auch beim Paris-Masters wiederum auf Nadal zu, den derzeit allerbesten, seit fast 18 Jahren erfolgreichen Tennis-Evergreen. Alle, die sich auch in der Bercy-Halle nach Gewinn des ersten Satzes große Siegeshoffnungen gegen den 20fachen Grand-Slam-Gewinner gemacht hatten, mussten am Ende klein beigeben wie seine spanischen Landsleute. Zunächst einmal Feliciano Lopez oder dann im Viertelfinale der US-Open-Semifinalist Pablo Carreno-Busta, gegen den Nadal ein neues Kapitel oder auch eine neue Dimension seiner Karriere öffnete. 1001 Siege, das ist alles andere als ein Mallorca-Märchen, aber eine sagenhafte Bilanz für einen, der oft verletzungsbedingt keine Turniere hat spielen können.
Nadal hat ja auch längst alle Vorurteile widerlegt, er wäre nur ein Sandplatzkönig. Wäre es tatsächlich der Fall, dann hätte er weder in Australien noch im US-Open (zuletzt 2019, heuer nicht dabei), geschweige denn zweimal am heiligen Rasen in Wimbledon triumphieren können. Wie wenige andere versteht es der mittlerweile knapp 34-jährige Spanier, sich Belägen, aber auch Gegnern so gut anzupassen, dass er sie nach anfänglichen Schwierigkeiten in den Griff kriegt und letztlich wie ein Zerstörer in die Knie zwingt.
Wer vermeint hatte, Nadal würde fast alles seiner Topspin-Grundlinienstärke verdanken, die die Gegner schlussendlich zermürbt, der wird seiner universellen Qualitäten nicht gerecht. Auch wenn der Spanier als alles andere denn Aufschlagkanone, Netz-Akrobat oder Volley-Spezialist gilt, so zeigt und beweist die Statistik, dass er in heiklen Situationen sowohl Asse schlagen als auch ein Smash-Hit sein kann.
Wär´s anders, wäre Nadal nach dem verpassten Einzel-Gold in Rio nicht Olympiasieger im Doppel geworden mit dem kleinen Marc Lopez zur Seite, nicht wahr. Wär´s anders, hätte er nicht auch einen Federer oder Djokovic in deren Wohnzimmern abserviert. Abgesehen von gewissen Talenten, die einem in die Wiege gelegt werden, so gehört zu den Talenten und/oder Tugenden auch die spezielle Eigenschaft, seine Spielanlage und Taktik dem unterzuordnen, was nach Adam Riese zu Erfolgen führt und nicht den meisten Spaß macht.
Tennis ist zwar die sublimierte, harmlose Form des knallharten Faustkampfes mit Ball und Schläger, nichtsdestotrotz aber ein mathematisches Spiel und „Percentage-Game“. Und dabei triumphiert nicht nur auf Sand, sondern immer öfter auf allen Belägen jener Spieler, der weniger Fehler, aber gerade deshalb in der Regel mehr Punkte macht. Eben das ist die Kunst, auch jene Spiele zu gewinnen, von denen manch einer meint, sie wären schon verloren.
Und genau in diesem Punkt ist Rafael Nadal über seine 20 Grand-Slam-Siege (wie Federer) hinaus einer der größten Künstler, die uns im modernen Tennis jemals begegnet sind. Auch wenn´s bei ihm mehr als bei vielen anderen Topstars der Vergangenheit und Gegenwart nach Preis für vergossenen Schweiß ausschaut. Was Nadal betrifft, so trügt der Schein. Wird einmal der Leu in ihm geweckt, dann kann sein giftiger Zahn verderblich sein. Von seinen Anfängen des Jahres 2002 bis zum Corona-Jahr 2020.