Anna, das Gold hamma! Aber anders als einst bei diesem Werbeslogan hätte niemand eine Bank auf Anna Kiesenhofer gesetzt, die 30jährige Niederösterreicherin aus Niederkreuzstetten im Weinviertel zwischen Mistelbach und Wolkersdorf. Kiesenhofer, who? Ja, wer ist das überhaupt? Wie schaut denn die aus? Am Fuße des einst von Toni Sailer besungenen Vulkans Fujiyama, auf jenem Rundkurs südlich von Tokio, wo 1976 der gebrandmarkte Niki Lauda im Regen den WM-Titel weggeworfen hatte, pedalte die kleinwüchsige, leichtgewichtige, hochmotivierte, hochintelligente und polyglotte Mathematikerin in einer sensationellen Alleinfahrt zum noch unglaublicheren Olympiasieg im Straßenrennen der Frauen. Erst ein Solo zu fünft, dann zu dritt, dann tatsächlich eine Alleinfahrt in den Olymp. Ein Glückskind, das an einem Valentinstag zur Welt kam, offenbar geküsst von der olympischen Liebe. Österreichs erstes Rad-Gold seit der Premiere der olympischen Neuzeit im Jahre 1896 durch einen gewissen Adolf Schmal im 12-Stunden-Bahnfahren.
Ja, wer hätte das gedacht? Hand aufs Herz, niemand von uns Österreichern. Aber noch kurioser, grotesker, nein: surrealer war die Tatsache, dass die besiegte holländische Topfavoritin Van der Vleuten die Arme jubelnd hochriss, als sie die Ziellinie überquerte – und dann in ihrem vermeintlichen Glück dem Betreuer um den Hals fiel, der auch nicht wusste, wie ihm geschah. Als man sie aufklärte, konnte es van Vleuten nicht begreifen. „Ich war mir sicher, dass ich Gold gewonnen hab´, wir haben doch alle eingeholt“, gestand die Annemieke, die nicht wusste, dass sich eine Fahrerin noch abgesetzt hatte. „Wer? Kiesenhofer? Ich hab´ von der noch nie was gehört!“ So ist das eben, wenn olympische Sterne vom Himmel fallen. Und daraus Märchen mit fünf Ringen geschrieben werden (können).
Ich will mich nicht damit aufhalten, wie sich sofort alle offiziellen Personen vom – nein, nicht vom Kanzler, der kurz ausgefallen, weil erkrankt war – Sportminister abwärts über den ÖOC-Chef bis zu den Niederungen des Funktionärswesens der Bedeutung des goldenen Husarenritts und der wie eine Phenizia aus dem Nichts aufgetauchten Anna bemächtigten. Frau Kiesenhofer, die mur 1,65m kleine Olympiasiegerin ist wie der um Zentimeter an einer Medaille vorbeigeschrammte 1,98m große Krauler Felix Auböck kein Produkt eines ausgeklügelten Sportsystems, sondern eigener Zielstrebigkeit, ausgeprägter Willensstärke, großen Bildungsgrades und hohen Intelligenzquotienten.
Sie hat immer gewusst, was sie will, wobei sie den (Profi)-Sport ihren beruflichen Möglichkeiten unterordnete. Sie hat in Wien an der Technik (technische) Mathematik studiert, dann an der Elite-Uni in Cambridge, ehe sie an der Universidad de Catalunya in Barcelona promovierte und inzwischen in Lausanne an der Uni tätig ist und auch dort lebt. Und da die frühere Duathlon- und Triathlon-Athletin trotz einiger Erfolge (Sieg Copa Espana, aber auch Etappensiege, zahlreiche österreichische Meistertitel im Zeitfahren und auf der Straße) ihren Profivertrag bei Lotto-Soudal wieder auflöste, um sich beruflich zu verwirklichen, wird sie wohl die von ihr besiegte Van der Veuten so aus den Augen verloren haben wie beim Rennen um Gold.
Kurz gesagt, eine von vielen nicht einmal wahrgenommene Leisetreterin hat jetzt für den größten unerwarteten rotweißroten Paukenschlag bei Olympischen Sommerspielen seit 1960 gesorgt, als dem Luftgewehr-Schützen Hubert Hammerer in Rom der goldene Schuss gelungen war, mit dem niemand gerechnet hatte. Für den Sportjournalisten-Grandseigneur Michael Kuhn, der damals schon in Rom und doch nicht dabei war, ist Anna Kiesenhofer so etwas wie ein Deja-vu-Erlebnis. „Auch wir“, gesteht er, „haben damals den Hammerer nicht gekannt. Und nicht einmal gewusst, wie er ausschaut!“ Jetzt aber, noch dazu im High-Tech- und Digital-Zeitalter, ist aus der großen Unbekannten ein Begriff geworden. In Österreich ebenso wie in den Niederlanden. Ja Anna, die Goldene hamma. Aber gewonnen hast sie nur du, nur du allein mit deinem Mut zum belohnten Risiko unbedingt betont werden und gesagt sein. Herzlichen Glückwunsch zum Gold, dem hoffentlich auch noch einiges an Geld folgt. Verdientermaßen.