Ich denke oft an Piroska, so hieß ein Filmhit der 50er-Jahre mit der quirligen Lieselotte Pulver. Aber bei dieser Piroska-Story handelt es sich um keinen Filmstoff, in Wahrheit auch nicht um die Rolle einer echten Piroska, sondern einer Agnes, die sich das Rot- als Tarnkäppchen aufsetzen musste, um als jüdische Turnerin in Nazi-Zeiten zu überleben. Die Rede ist von der fünffachen ungarischen Olympiasiegerin Agnes Keleti, die nicht nur Nazis (Mörder ihres Vaters in Auschwitz), das mit ihnen verbundene Horthy-Regime, den Zweiten Weltkrieg, den Stalin-Kommunismus ebenso wie die 56er-Revolution überlebt hat, sondern am 9. Jänner 2021 blitzender Augen, wachen Geistes und in rüstiger Gesundheit ihren Hunderter gefeiert hat. Wobei das Wörtchen feiern in Corona-Zeiten im Gegensatz zum 99er im Vorjahr leider doch nicht zutraf, auch der von ihr gewohnt starke Händedruck angesichts der Vorsichtsmaßnahmen ausbleiben musste, ganz zu schweigen von Jubiläumsfesten, die sowohl die Ungarn als auch Israel (dort bekam sie den höchsten aller Staatspreise) inszenieren hätten können, aber der Pandemie wegen nicht arrangieren durften.
Aber zurück zum Piroska-Tarnkäppchen, das sich Agnes aufsetzte, als sie als Jüdin vom Turnverein ausgeschlossen worden war. Sie heuerte als Magd, die sich mit falschen Papieren als christliches Mädchen ausgegeben hatte, bei einem Bauern am Lande an. Niemand fragte nach, so befand sie sich in Sicherheit. Nach dem Krieg war Schluss mit Magd- und Bauerntum, es ging ab in eine Munitionsfabrik, um sich ihr (Sport)Leben leisten zu können. So nahm sie die Turnerei wieder auf, war auch schnell wieder top, konnte aber bei den London-Spielen 1948 einer Verletzung wegen nicht antreten. Vier Jahre später, schon 31, gewann sie ihr erstes Olympiagold (Boden). Nach der von den Sowjets niedergeschlagenen Revolution 1956 wurden die Olympia-Duelle 56 der inzwischen 35-jährigen Keleti in Melbourne mit dem russischen „Feindbild“ Larissa Latynina auch zu einer sportpolitischen Auseinandersetzung. Mit vier Goldenen, die die gefeierte Agnes für sich und ihre Heimat gewann, avancierte sie nicht nur zu einer Turn-Ikone. Sie war ein Held – nur nicht mehr der Nation…
Australien nützte sie nämlich zum „Absprung“ ins Exil, das sie in Israel fand, wo sie 21 Jahre lang am Wingate-Sport-Institute lehrte. Herzlija bei Tel Aviv wurde ihre zweite Heimat, aber seit der Wende lebte sie teilweise auch in Budapest. Von Jahr zu Jahr, das sie älter geworden war, überraschte der Jubilar seine (Medien- und Politik-)Gratulanten auch stets mit eine Fitness-Beweis. Bis ins höchste Alter setzte sie sich turnerisch mit einem Spagat in Szene. Als lebendiger, leibhaftiger Beweis, dass auch (Spitzen) Sport alles andere denn Mord, vielmehr ein Lebenselixier ist. Bis zum 100er, den das falsche Rotkäppchen jetzt als echtes Vorbild feierte. Eines, das in jeder Hinsicht Goldes wert war und ist.