Ich gehöre ganz bestimmt nicht zu jenen, die bei unglücklichen Niederlagen, annullierten Toren oder verlorenen Medaillen in patriotisches Geheule ausbrechen und lauthals rufen: Betrug, Betrug, man hat uns bestohlen, haltet den Dieb! Aber immer öfter beschleicht mich ein mulmiges Gefühl, wenn ich sehe, wie unter dem Deckmäntelchen der Redlichkeit und der Hi-Tech-Hilfsmittel (Video Assist Referee) und anderer moderner Methoden mit der Fairness richtiggehend Schindluder betrieben wird. Reden wir nicht über die mehr als dubiose rote Karte, die es schon in der Anfangsphase des Champions-League-Duells gegen Real-Madrid für den Schweiz-Legionär Freuler von Atalanta Bergamo gab, die über mehr als 70 Minuten bei 11 Spielern gegen derer 10 natürlich alles veränderte.
Das war im Fußball, bei dem man ja über viele (Fehl-)Pfiffe streiten kann, erst recht über Entscheidungen, die davor der Schiedsrichter-Assistent dem Referee als Floh ins Ohr gesetzt hat. Das allerdings, was sich zum Auftakt der Nordischen WM in Oberstdorf beim Finale des Damen-Skispringens zum Leidwesen der Halbzeit-Führenden, zum Entsetzen von Rotweißrot und zur Verwunderung aller Experten und Insider abgespielt hat, lässt sich am treffendsten nur mit Chuzpe beschreiben, einem Wort aus dem Jiddischen, das so viel heißt wie: Dreistigkeit, Unverfrorenheit, Unverschämtheit.
Jawohl, es war dreist, unverfroren und unverschämt, wie der slowenische Jury-Chef Miran Tepes, einst ein ganz guter, aber doch eher mittelprächtiger Skispringer, da in der Entscheidung um Gold eingriff. Just zu Zeitpunkt, da seine Landsfrau Klinec überraschend die Führung übernommen hatte und nur noch die im ersten Durchgang mit 109m bei weitem Beste, Marita Kramer, Salzburgerin mit holländischen Wurzeln, am Ablauf stand. Und was geschah, ohne dass sich – das zeigt inzwischen ja eine spezielle Grafik in Motion – die Wind- und Wetterbedingungen nur um Jota verändert hätten? Tepes ließ den Wettkampf stoppen, um völlig unerwartet bis unverständlich den Anlauf zu verkürzen! Was steckte dahinter? Gewohnheit der Macht? Macht der Gewohnheit? Übertriebene Vorsicht? Rücksicht auf Verluste? Hinterhältige Absicht? Tatsächlich raubte die Zwangspause samt neuer Bedingungen der 19-jährigen die Konzentration samt Nerven. Fazit: Ihr Sprung war einen halben Meter zu kurz, der Aufsprung verwackelt – nicht nur Gold weg, auch jede andere Medaille, auf deren Kehrseiten bei der um ihre Meriten betrogenen Marita nur Tränen flossen.
Dass Miran Tepes reinen Gewissens so gehandelt hat, wie er handelte, scheint schwer vorstellbar. Und wenn er andererseits nicht wusste, was er tat, dann wäre er ein (lebens-)gefährlicher Jury-Faktor, den es zu entfernen gilt. Erst recht, wenn dümmliche Gedankenlosigkeit oder gedankenlose Dummheit seine Geschwister sein sollten. Ob´s der FIS jetzt angenehm ist oder auch nicht, nach diesem ziemlich nationalistisch eingefärbten, skandalösen Eingriff auf Kosten einer jungen Athletin gehört Tepes jedenfalls weg. Und zwar möglichst von heute auf morgen in Oberstdorf, um erstens ein Exempel zu statuieren und zweitens zu demonstrieren, dass diese (Befehls-)Form von Chauvinismus bei Medaillenkämpfen einfach nichts zu suchen und verloren hat.
Die Forderung würde für mich übrigens ebenso gelten, wäre es umgekehrt gewesen, sprich: hätte Kramer geführt und die Slowenin Klinec wäre durch die Verkürzung zum Hand-, nein: Judaskuss gekommen. Schlimm genug, dass im heutigen Hi-Tech-Zeitalter so etwas überhaupt noch ein (online-)Diskussion-Thema sein kann wie einst Stammtischdebatten um die nebulose Disqualifikation von Karl Schranz anno 1968 in Grenoble, die ihm nach ersten Siegesfotos den einzigen Olympia-Triumph geraubt und zum kalten Ski-Krieg zwischen Österreich und Frankreich geführt hatte. Es ist halt nichts Neues, dass sich auch im Sport die Geschichte wiederholt. Nur Orte, Bewerbe, Disziplinen und Namen wechseln. Leider.