Geneigte Leser meines Blogs, ich muss zugeben, dass ich mich geirrt habe, weil ich sogar noch im dritten Satz wetten hätte wollen, dass Dominic Thiem als kompletterer Spieler das Masters-Finale gegen Medwedew gewinnt! Er schien auch die längste Zeit der bessere Spieler mit dem effizienteren Aufschlag, variantenreicherem Spiel und mehr Breakchancen als der Russe, bis … Der Rest ist inzwischen Geschichte und Thiem zum zweiten Mal in Folge der Verlierer eines – so nebenbei – längsten ATP-Final-Endspiels. Trotz der sichtbaren Enttäuschung fand Dominic aber, dass er stolz sei auf diese letzte Tenniswoche des Jahres, in der er immerhin die Nummer 1 und die Nummer 2 der Welt besiegt habe.
Um persönlichen Stolz, so provokant es klingen mag, kann er sich nichts kaufen, das kommt in den vor allem im Fernsehen so beliebten (Pausen-)Statistiken ebenso wenig vor wie das Gewicht von Fehlern oder die mentale, emotionale Bedeutung manch eines Punktes. Nichtsdestotrotz kann und soll man Statistiken auch nicht vernachlässigen, etwa bei den Prozentsätzen erster Aufschläge und der Punkte, die man dabei macht – oder vice versa beim zweiten Service und dem, was danach folgt als Auf- oder als Rückschläger. Und da, das muss man dem unkonventionellen, oft unbeteiligt bis gleichgültig wirkenden Russen zugutehalten, setzte Medwedew im Handumdrehen neue, offensivere Akzente mit Netzattacken, die immer öfter zum Erfolg führten. Umkehrschluss: Thiem, der jeden Schlag beherrscht, muss seinerseits einen Schuss offensiver werden, auch deshalb, um Ballwechsel zu verkürzen, damit auch Matches – und zugleich Kräfte wie Konzentration zu sparen. Aber wie gesagt: Zahlenvergleiche allein sagen nicht alles – es kommt darauf an, wer, wie, wo und vor allem wann den wichtigen Punkt macht, der den Gegner trifft…
Im Finalsieg Medwedews schlägt sich auch noch eine andere Statistik nieder, die einer näheren Betrachtung/Untersuchung wert zu sein scheint. Seit „Hausherr“ Murray als zweifacher Olympiasieger im Endspiel 2016 gegen Novak Djokovic triumphierte, hat keiner aus dem Quartett der einstigen Großen das ATP-Finale mehr gewonnen, auch und gerade dann nicht, wenn sie im gleichen Jahr noch Grand-Slam-Titel geholt hatten. Seit Dimitrow (2017), Zwerew (2018), Tsitsipas (2019) und nun Medwedew setzte sich zum Saisonende immer einer die „Weltmeister-Krone“ auf, der weder ein Major auf dem Konto hatte noch als Favorit gehandelt worden war.
Purer Zufall oder Gesetz der Serie, weil sich die Allerbesten letztlich über Grand-Slam-Titel definieren, also alle Kräfte ihren Stärken entsprechend für die zweiwöchigen Klassiker in Melbourne, Roland Garros, Wimbledon und Flushing Meadow bündeln? Abgesehen davon aber signalisierte das letzte ATP-Finale in der O2-Arena in doppelter Hinsicht eine Wachablöse. Nicht nur, weil da mit Thiem und Medwedew die nächste Generation das Endspiel bestritt, sondern das „Masters“ mit 2021 auch von London nach Turin wechselt. Ich weiß nicht, ob ich mich auch da wieder irre, bin mir aber fast, sicher, dass mit dem neuen Jahrzehnt endgültig auch die Ära jener Topspieler um Thiem und Co. beginnt, denen lange genug die großen Drei bis Vier als unüberwindliche Hürden im Weg gestanden sind.