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Boris Becker oder: Englisches Häfen-Trauma, das den realitätsfernen Verschwender austrieb

Ich habe Boris Becker oft persönlich erlebt. Als deutsches Wunderkind, das Wimbledon gewann und in Kitzbühel unter Buhrufen weggeputzt wurde. Als Comeback-Schützling von Bresnik, der als „roter Baron“ Mitte Zwanzig das Masters gewann. Als Bayern- und Fußballfan, der ihm bei der WM 2006 in der Allianz-Arena im Aufzug begegnete. Und als Djokovic-Coach auf Krücken in Monte Carlo, als er witzige Sprüche klopfte und seine TV-Expertisen ablieferte. Also vom Bobele zur deutschen Tennis- und Sport-Ikone, die in Saus und Braus, in Luxus und Liebe frei nach dem Motto lebte: Ich koste die Welt auch ohne Geld aus!

Der Krug war bekanntlich solange zum Brunnen gegangen, bis er endgültig brach. Nicht Dorfrichter Adam, sondern Richterin Taylor mit traditioneller Perücke in London verdonnerte den verdatterten Boris wegen Millionen an Schulden, verschwiegenen Besitzes und vor allem fehlender Reue zu 30 Monaten Knast, von denen er acht harte, sogar lebensbedrohende in Hochsicherheitsgefängnissen absitzen musste, ehe er nach Deutschland abgeschoben wurde. In die Freiheit. Unter seinen Namen, nicht mehr als Nummer im täglichen Häf´n-Programm. Aber im Privatflugzeug!

Aber das hatte weder mit Hochmut noch mit Leichtsinn Beckers zu tun, sondern mit einem Freund, der das bezahlt hatte. Und ganz nach dem Geschmack der britischen Behörden, die kein Boom-Boom-Tamtam wünschten. Wer das erste, ganz sicher gut honorierte Exklusiv-Interview des gefallenen Engels aus Leimen bei Heidelberg gesehen hat, wer diesen von Kopf bis Fuß geläuterten, sozusagen runderneuerten Boris verfolgt hat, der musste beeindruckt sein, welch Wandel sich da in diesem vordem mitunter arroganten Promi-Helden vollzogen hat.

Vom zwar möglichen, aber doch nicht wirklich befürchteten Urteilsspruch, bei dem ihm das Herz in den Keller gerutscht war, bis zum realen Häf´n-Trauma auf engstem Raum mit Mördern, Räubern, Kinderschändern und anderen Schwerverbrechern war´s für den verwöhnten Becker eine geradezu surreale Reise in eine mehr als raue Wirklichkeit, schlimmer noch als  nächtliche Alpträume. Vom Wimbledon-Wohnzimmer, wie er es einst als Dreifachsieger nannte, zum dreckigen Loch mit dreckigen Figuren wie in einem Horror-Film. Einmal vom Himmel zur Hölle, um dort sogar Todesängste auszustehen. Mit anderen Kriminellen, sogenannten „Listenern“, Code-Wort für Beschützer, die einen Mordanschlag auf ihn verhinderten. Very british. Aber andersrum!

Was das hinter schwedischen Gardinen in England betraf, so gab´s keinen Prominentenbonus. Schmalhans als Küchenmeister. Reis und Kartoffel. Erstmals Hunger. Leibesvisite hinein und dann hinaus. Im wahrsten Sinn des Wortes Hose runter. Nackt buchstäblich. Entblößt im übertragenen Sinn. Nummerntafel statt Namensschild. Lange kein bis kaum Kontakt zur Außenwelt. Tennis-Champ als Mathematik- und – Gipfel an Surrealismus! – Englischlehrer für Briten, damit man sich ein paar Bonuspunkte holt! Jetzt hat Boris die moderne Fassung von Dantes Inferno hinter sich. Jetzt ist er wieder jenseits der Insel ein freier Mann, soweit es überhaupt möglich ist, außerhalb der vier Gefängniswände mit dem Namen Boris Becker in Freiheit leben zu könne, wenn man auf Schritt und Tritt nicht nur von den Paparazzi gejagt wird als Opfer seiner eigenen schillernden Person und großen Popularität.

Darum ist´s durchaus verständlich, dass eines der liebsten, aber auch medial misshandelten deutschen Sportkinder seine Zukunft außerhalb der Heimat sieht mit seiner Partnerin Lilian aus gutem Haus mit bester Erziehung, die in guten wie in den aller aller schlimmsten Zeiten auch ohne Ehering so treu zu ihm gestanden ist wie Boris zu seinen Kindern mit verschiedenen Frauen unter verschiedenen – lassen wir das Detail lieber weg – Umständen und Voraussetzungen. Auch wenn er hin und wieder Tränen verbeißen musste, auch ohne Herz und Schmerz, auch wenn man kein Boris-Fan oder oder gar das Gegenteil ist –  Beckers Aufarbeitung seines (Lotter)Lebens, das ihn in die tiefsten Niederungen steckte, mehr noch: das Etikett eines (Schwer)Verbrechers umhängte, war zumindest so heroisch wie seine Heldentaten als Tennisstar. Für mich der größte Becker, den ich je erlebt habe. Oder anders gesagt: Ganz unten ganz oben. Ganz ohne Titel. Ganz ohne Millionen. Ganz ohne Baron. Einfach Boris!

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